Beutel-Eule Unterwegs- Protokoll einer Stunde Langweile
Protokoll einer Stunde Langweile
Diese Geschichte handelt von Langeweile. Einem Wort, das dem Streichkurs der Dudenkommission gerade noch so über die Klinge gesprungen ist, weil seine eigentliche Relevanz mittlerweile sogar für Historiker umstritten sein dürfte. Kein Mensch langweilt sich heute tatsächlich noch. Es sei denn, er besucht einen “Finde-Dich-Selbst”-Kurs an der Volkshochschule.
Warum ich mich aber doch eine Stunde lang, ohne digitale Beatmung, Musik, anderen Menschen, Bücher oder sonstigen Ablenkungen in meinem noch nicht so langen Leben herumdrücken musste, was Weintrauben und eine angerissene Milchpackung damit zu tun haben, erfahrt ihr hier!
Langweile
Es ist etwas, das heute wohl ebenso ausgestorben sein sollte wie der Herrerasaurus, dem die gleiche Geschichte vielleicht vor 230 Millionen Jahren passiert sein könnte. Kurz: Langeweile ist ein digitales Fossil geworden, welches wir kaum noch zu spüren bekommen, da es nicht mal mehr versucht, uns mit seinem zahnlosgewordenen Gebiss auf die Nerven zu gehen. Es hat sich ausgelangweilt.
Aber was ist sie eigentlich, die Langeweile? Wikipedia sagt, es sei ein gezwungenes Nichtstun oder eine eintönige Arbeit. Kierkegaard, ein schlauer Mensch, skandiert: Alle Menschen seien langweilig! Sogar Gott habe sich gelangweilt, sagt die Kirche, und deshalb den Menschen geschaffen. Wie sich später herausstellte, war das ein Garant für das Komplett-Unterhaltungspaket. Das heißt, auf der einen Seite kann man langweilig sein, auf der anderen ist es ein Zustand, in dem man sich befindet. Da Ersteres in Zeiten von Bali-Bikini-Fotos am Morgen, Wildwasserfahrten nach dem Mittag und romantische Candlelightdinner am Abend eine Beleidigung darstellt, stützen wir uns wohl nur auf den Zustand. Kluge Menschen in noch klügeren Büchern haben sich auf die Suche nach der Langeweile gemacht und fanden heraus, dass sie wohl ein Kind von “Weltschmerz” und “Ekel bzw. Überdruss” sei. Bis sie zu dieser Einschätzung gekommen sein dürften, musste wohl ebenfalls die Langeweile wirken und wirken und wirken.
Fachliteratur rät aus diesem Grund eher zu einem Flow-Erlebnis, also dieser schmale Grad zwischen “Oh Gott, ich werde von meinem Stress bei lebendigem Leib gevierteilt” und “Oh mein Gott, es sind 238 Kacheln an der Wand”. Das Aufgehen in einer Tätigkeit. Heutzutage stellt das allerdings die geringste Herausforderung dar.
Warum ist das so?
Zunächst einmal hat die digitale Revolution einen erheblichen Beitrag zum Aussterben dieses ungemütlichen Gemütszustandes geführt. Niemand muss heute noch Langeweile wirklich ertragen. Jeder steckt sich einfach die Kopfhörer in die Ohren, schlägt ein Buch auf, unterhält sich mit fremden Menschen, spielt Candy-Crush, was auch immer. Die Zahl der zur Auswahl stehenden Tätigkeit ist groß. Doch was passiert, wenn man nichts davon tun kann?
Wie kam es dazu?
Wie der geübte Beutel-Eule Lesende sicherlich mitbekommen hat, fahre ich viel Zug. Ich glaube mittlerweile, dass alle meine wichtigen Lebensereignisse notgedrungen etwas mit der Deutschen Bahn zu tun haben müssen. Wie dem auch sei.
Es war spät Nachts gegen zehn als ich auf dem menschenleeren Bahnhof der sächsischen Provinz eintrudelte. Der Sonntag des TV-Duells. Ich schlenderte also durch die Vorhalle, freute mich über mein eigenes Echo. Plötzlich fiel mir die Anzeigetafel ins Auge, deren Bild mit einem unschönen “Zug fällt aus” verziert war. Der Nächste würde diesen Bahnhof erst in einer ganzen Stunde beehren. Meine Augen weiteten sich auf Untertassengröße. Verzweifelt starrte ich auf mein Handy. 15 % Akku grinsten mir frech …. 14%…. ins Gesicht und ….13%… ließen das Gefühl von Panik in mir aufkeimen. Ich hatte kein Buch dabei, keinen I-Pod, kein Strickliesel, keine Origamifaltanleitung, nicht mal einen Stift um “Adieu schöne Welt” auf eine benutzte Serviette oder Klowand zu kritzeln.
Ich machte mich also auf die Reise zu meiner ganz eigenen “Selbstfindung”.
Das Protokoll einer langweiligen Nacht
21:43
Ich habe gerade festgestellt, dass ich so schnell nicht nach Hause kommen soll. Der Schock wirkt noch und sitzt tief, mein Handy liegt sterbend in meinen Armen. Ich rapple mich auf und krauche durch den Bahnhof auf der Suche nach einem lebensrettenden Ort, der mein Handy mit neuer Energie betanken soll. Erster Anlaufpunkt ist der Warteraum der Deutschen Bahn, der zwar warm, aber meist von den Ausdünstungen haus- und heimloser Menschen belüftet wird. Ich starre mit dem überhitzten Gerät in meinen Händen hinein. Die Menschen glotzen wie Zootiere zurück. Ich widerstehe dem Bedürfnis, gegen die Scheibe zu klopfen. Man lehrte mir, das würde sie aggressiv machen. Es befinden sich keine Steckdosen im Terrarium. Verdammt, ich habe sogar ein Ladekabel dabei.
Mein Handy zuckt mittlerweile nur noch wie das sterbende Kind im Erlkönig. Ich fahre alle Funktionen herunter, es muss nun eigentlich nur noch existieren.
21:50
Ich habe eine gute Idee. Burger-King ist wie das Fast-Food-Äquivalent zum Apothekennotdienst. Die haben immer Bereitschaft. Und ein Klo. Und vielleicht Steckdosen. Und, oh mein Gott, Kaffee. Ich hechte also zum Restaurant, hahah der war gut, mein Handy wippt nur diffus vor sich hin. Ein Mensch sitzt davor, der Kopf ist in seine Hände gestützt, ich glaube, er weint. Ich ruckel an der Tür. Nichts bewegt sich. Der junge Mann schaut mich verzweifelt an und deutet wortlos auf das Pappschildchen neben der Klinke. “Wegen technischer Probleme ab 21 Uhr geschlossen.” Ich muss mein Handy retten, denke ich nur. Doch die letzte Aussicht auf ein bisschen Strom wurde mit einem billigen Pappschild zunichte gemacht. Mein Handy flimmert nur noch.
22:00
Ich wandere ziellos durch den Bahnhof und komme nun zum dritten Mal an diesem Pärchen vorbei, das mich jetzt böse anstarrt. Ok, setze ich mich halt hin. Vor dem niedergelassenen Rollo eines Traditionsbäcker für fettige, pizzaförmige Aterienverkalker mache ich es mir auf dem sauberen Ladenfenstersims bequem. Am Bahnsteig ist es Anfang September noch zu kalt. Ich sitze und starre die Uhr an. In diesem Augenblick wird mir klar, dass eine Stunde verdammt lang ist.
22:05
Ich habe mittlerweile alle Werbespots der vorhandenen TV-Bildschirme drei Mal angesehen. Ich weiß jetzt, dass das TV-Duell zu Ende ist, ohne dass Schulz der Merkel die Perücke vom Kopf gerissen hat, um sie als Echsenmenschen zu entlarven. Den Plott hätte sicher niemand kommen sehen. Das erste Zeichen von Langeweile zeigt sich, ich wippe mit dem Fuß.
22:10
Erste Zeichen von Mangelernährung werden sichtbar. Um dem entgegen zu wirken, sitze ich mittlerweile mit einer Schüssel selbst gepflückter Weintrauben am Rand und beobachte die vorbeigehenden Menschen, währenddessen ich sie (die Weintrauben versteht sich) in mich hineinschaufel, fast so als äße ich Popcorn auf einer Tribüne und die vorbeihastenden Leute würden nur für mich an ihr Ziel laufen. Mir gefällt der Gedanke.
22:13
Weintrauben machen Durst. Nur eine angerissene Packung Milch spendet mir Gesellschaft und lugt zu mir hinauf. Ich hasse Milch, finde das Ganze skurril, mache ein Foto. Mein Handy erlischt. “In ihren Armen, das Kind war tot”, sage ich zu ihm und nehme mir in meiner Rache vor, es bald gegen ein neues Modell einzutauschen. Bin nun komplett von der digitalen Welt isoliert. Ich fühle mich sehr alleine. Auch die Weintrauben trösten nicht mehr.
22:18
Ich habe die Weintrauben weggestellt. Mir wurde schon schlecht. Nun sitze ich hier und denke über mein Leben nach.
22:19
Ich bin fertig. Habe nun wirklich sehr große Langeweile und frage mich, was Menschen früher ohne Handys gemacht haben. Ich mache nun Blubbgeräusche und freue mich erneut über mein eigenes Echo. Eine Taube fliegt auf. Ich habe wohl ihre Mutter beleidigt.
22:25
Der Blick auf die Uhr offenbart, dass ich schon eine halbe Stunde überstanden habe. Trotz meines Stresses nehme ich mir die Zeit und schaue den Bahnhof sehr interessiert an. So viele Kacheln. 1, 2, 3, 4 ….Ich bemerke, dass die Weihnachtsbeleuchtung offenbar ganzjährig hängt. Es ist seltsam, mitten im Sommer Lichterketten anzuglotzen. Eine Taube starrt mich an, offenbar beeindruckt von meiner Beleidigungsaktion, ich gucke zurück. Die Taube gewinnt das Battle.
22:30
Erste Wesenszüge verändern sich. Die Abneigung gegenüber Menschen ist wie weggeblasen. Meine Neugier für andere Menschen steigt nun ins Unermessliche. Ich bin jetzt die Frau, von der man sich beobachtet fühlt, wenn man zur Bahn hechtet. Drei junge Männer, maßgeblich von Rauschsubstanzen in psychedelische Traumwelten versetzt, betreten den Saal und brüllen. Ich hole wieder meine Weintrauben heraus, endlich ist wieder was los. Sie schreien Obszönitäten gegen eine nicht anwesende vierte Person, offenbar die Exfreundin des Anführers. Wenn man ihren Ausführungen glauben darf, hat sie ihn betrogen, ist darum eine wenig gut bezahle Arbeitnehmerin im Rotlichtviertel und er hat zwei Gramm Cannabis an sie verloren. Ich komme nicht umhin zu bemerken, dass ich die unbekannte Dame gut verstehen kann. Während sie also krakeelend durch die Gänge ziehen, löst sich einer aus der Gruppe und kommt zu mir herüber. Mit versilberten Augen, deren Pupillen an schwarze Löcher erinnern, starrt er mich an und fragt: “Entschuldigen Sie bitte, wissen Sie zufällig, wann der Zug nach XY kommt?” Ich stecke mir vor der Antwort eine Weintraube in den Mund, hoffe er macht noch einen Hofknicks. Tut er nicht. Ich bin enttäuscht, mache ihn trotzdem wortlos auf die Anzeigetafel aufmerksam.
22:35
Polizisten flanieren nun durch die Gänge. Offenbar haben sie das Cannabis gerochen. In dem Tempo holen sie die drei von vorhin nicht mehr ein.
22:40
Mein Zug rückt in greifbare Nähe. Ich erhebe mich feierlich von meinem Fenstersims, die Tauben applaudieren mir. “Danke ihr wart großartig”, gurre ich ihnen zu. Ich spaziere zu meinem Bahnsteig. Es ist kalt. Ich ziehe die Jacke zu, plustere mich auf. Ich schaue hoch auf die Anzeige. “Der Zug hat fünf Minuten Verspätung”, kräht jetzt die Bahntante von ihrem Ausguck herunter. Ich lege meinen Kopf auf meine Knie und überlege zu weinen. Überdruss setzt ein.
22:45
Kalt. Ich empfinde Weltschmerz.
22:50
Ich überlege mir, dass mein Zug jetzt gekommen wäre.
22:55
Ein Zug rollt auf meinen Gate ein. “Bitte nicht einsteigen”, brüllen mir seine Anzeigen entgegen. Ich will ihm sagen, dass er mir gar nix zusagen hätte. Der Zug bleibt daraufhin dunkel, er wird heute nirgendwohin fahren. Ich kann keine Verzweiflung mehr empfinden. Zu müde.
23:00
Auf dem gegenüberliegenden Gleis rollt ein Zug heran. Seine Lichter schwanken durch die kalte Septembernacht. Geigenmusik spielt auf, das Orchester setzt kurz darauf ein. Jemand überreicht mir eine Medaille. Ich habe das Experiment überstanden. Reporter fragen mich, ob ich jetzt mit auf die Marsmission käme, ein Verlag will meine Autobiografie drucken. Ich steige ein. Endlich.
Nützliche Links
Zum Thema Langweile gibt es hier noch langweiliger Lektüre.
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