Beutel-Eule Unterwegs – #Wir sind mehr
Beutel-Eule Unterwegs – #Wir sind mehr
Ihr Lieben, wie ihr gestern schon auf Facebook (sorry übrigens für die schändliche Autokorrektur) und Instagram sehen konntet, haben wir an dem Gegenprotest in Chemnitz unter dem Titel #wirsindmehr teilgenommen und sind noch immer schlicht überwältigt von den 65.000 Mitmenschen, die an diesem Montagabend für Menschenfreundlichkeit (!!!) und Gewaltlosigkeit auf die Straße gegangen sind.
Heute möchte ich erzählen, wie ich diesen Abend erlebt habe.
Die Anreise
Zugegeben: Eigentlich mag ich keine Menschen. Sie sind meistens zu viele, zu laut und schlecht angezogen. Zumindest fühlte ich mich bestätigt, als ich neben der korpulenten Frau im Zug saß, natürlich entgegen der Fahrtrichtung, sie sich in ihrem hellrosa Pailettenkleid ein Bier aufmachte und der Deckel in hohem Bogen durch die Luft segelte. Sie suchte ihn vergeblich. Auf den Hinweis meinerseits, dass dieser für immer in den Untiefen des Deutsche Bahn Kosmos verschwunden sein würde, reagierte sie mit einem: “Nee, nee, der ist hier irgendwo. Der ist doch hochgesprungen.” “Ja und dann mit der Schwerkraft nach unten gefallen.”, führte ich die Geschichte weiter. Ein subtiler Hinweis darauf: Mädchen, er ist weg, lebe damit. Sie beugte sich sehr nach an mich heran, suchte den Korken. Das Kleid schob sich gefährlich weit über ihre Schenkel. Ich half ihr lieber, bevor das Kleid noch weiter nach oben wanderte und mir die Pailetten wie Schrapnellen um die Ohren flogen. Ich fand den Schlingel auch. Sie bedankte sich freundlich, ich lächelte freundlich, atmete tief ein und aus. Ich fahre zu einer Kundgebung, in der es um Menschenliebe gehen soll. “Reiß dich zusammen und lerne gefälligst, Menschen zu lieben!”, summte ich mit mantraartig im Kopf vor. Ich hatte ja eine Stunde im mäßig überfüllten Zug Zeit. Kopfhörer rein, passt schon.
Chemnitz
Chemnitz ist meine Heimatstadt. Hier wurde ich geboren, hier bin ich aufgewachsen. Ich mag Chemnitz. Zumindest solange, wie keine rechte Meute durch die breiten Straßen marodiert, Menschen jagt und Hitlergrüße zeigt. Das ist leider in den letzten Tagen passiert. Metaphorisch vor meiner Haustür, da wo ich im Sandkasten gespielt habe. Für mich undenkbar. Bei aller Desinteresse und dem Hang zum Meckern kann man den Chemnitzern keine Unfreundlichkeit nachsagen. Wir sind ein lustiges Völkchen, wir lachen gerne und suchen uns jeden denkbaren Anlass, um ein Fest auf dem Markt zu feiern. Da stehen immer Buden. Meist wissen wir selber nicht, warum schon wieder eine Blaskapelle spielt. Ob da nun ein Maibaum, ein Weinfass oder der Christbaum steht, wir freuen uns drüber.
Genau an diesem Markt liegt das Alex. Nachdem ich meinem Anhang stolz den Nischl (der Karl-Marz-Kopf) zeigen konnte, der mit einem “Irgendwie, hab ich mir den größer vorgestellt” bedacht wurde (Ja, Karl ich weiß, das hört kein Mann gern), zogen wir in das stadtbekannte Restaurant für Kaffee und Kuchen ein, denn wir hatten noch viel Zeit. Wir diskutierten über alltägliches wie das Staffelfinale der Bachelorette, Produktplatzierung und warum der Osten eigentlich ein Naziproblem hat.
Häufig las man dieser Tage, nach dem tragischen Tod eines Chemnitzers, von der Angst meiner Heimatstadt. Von der Angst noch auf die Straße zu gehen. Von der Angst, entweder vom rechten Mob oder von einer Gruppe schlecht integrierter Flüchtlinge attackiert zu werden. Leider ist diese Angst real, wie Chemnitz gezeigt hat. Sie richtet sich nur gegen die Falschen. In jeder Ethnie gibt es Arschlöcher. Manche haben schwarze, manche blonde, oder gar keine Haare. Manche sind rechts und prügeln sich durch die Straßen, andere sind linksradikal und werfen mit Steinen, andere ziehen mit Messern umher und wieder andere kommen Menschen körperlich viel zu nahe oder schlagen wie Kinder um sich. Dabei ist es aber egal, welche Religion, Hautfarbe oder Geschlecht sie haben. Sie sind und bleiben Arschlöcher, die mit Gewalt versuchen, andere kleiner zu machen als sich selbst, nur damit sie sich ein bisschen besser fühlen können in ihrer hässlich grauen Welt.
Es ist die Gewalt, vor der wir Angst haben sollten und nicht vor dem Mensch.
Das Signal
Bevor überhaupt ein Konzert startete, wurde dem Opfer in einer Schweigeminute gedacht. Einem Chemnitzer, dem von zwei dieser oben genannten Idioten das Leben genommen wurde. Das Opfer, dessen Tod sowohl von rechten als auch linken Radikalen missbraucht wurde, um Stimmung zu machen. Ein Opfer, das von angeblichen Heimatpartei instrumentalisiert wurde, um in nicht weniger als ein paar Stunden tausende Radikale auf die Straße zu bringen.
Dagegen sollte ein Zeichen gesetzt werden. Ein Zeichen gegen Gewalt.
Ob ein Konzert das richtige Signal ist, das kann ich nicht bewerten, aber es ist zumindest ein Signal. Ich bin kein politischer Mensch. Ich kann mich nicht mit “Chemnitz Nazifrei” identifizieren, die ständig “Nazis raus” brüllen und “Alerta, Alerta!” skandieren. Ich bleibe bei solchen Rufen still, denn ich finde sie schrecklich. Wohin den raus? Raus auf den Mond? Wo denn raus? Raus aus Deutschland? Raus aus dem Bundestag? Auch die rechten Menschen sind trotzdem Menschen. Sind sind keine Schweine, wie der Sänger von Feine Sahne Fischfilet brüllt. Was haben wir, die vermeintlich Anständigen, davon, wenn wir sie als bloßes Problem oder sprachlich zu Tieren degradieren und genau das Gleiche fordern, wie sie? Mehr Bildung, das würde den meisten gut tun. Raus mit der nationalsozialistische Ideologie, raus mit dem Rassismus, raus mit Homophobie, raus mit Menschenverachtung. Da hätte ich mitgebrüllt. Aber so: Nein danke.
Ich kann mit dem Mädchen mit dem Rotschopf nichts anfangen, die mit zittrigen Händen und sich überschlagender Stimme einen Rundumschlag fährt, dass sie das Atmen vergisst. Gegen die Polizei, gegen die Regierung, gegen Umweltzerstörung, gegen Rassismus, gegen Frauenfeindlichkeit. Ja, alles wichtige Themen, aber die gehören nicht an diesen Ort. Man kann nicht alles sofort und auf einmal haben wollen, dann vergisst man nämlich das eigentliche Ziel.
Die Acts
Die meisten Menschen sagen, wenn man sie fragt, stolz, dass sie nicht nur für die Acts gekommen sind. Wenn wir alle ehrlich sind, war das auch einer der Gründe, da ist man sich insgeheim einig. Vielleicht nicht der größte, aber es ist trotzdem etwas besonderes. Hauptgrund ist es wahrscheinlich, sich nicht mehr so alleine zu fühlen mit seiner Meinung. Die eigentlich völlig natürliche Meinung, dass alle Menschen gleich sind, dass niemandem Gewalt angetan werden soll. Dinge, die man schon im Kindergarten lernen sollte. Egal welche politische Meinung die Besucher und Besucherinnen hier haben, das ist der Punkt, an dem sich alle einig sind.
Man will zeigen: Schaut her, wir sind mehr als ihr, die ihr Gewalt als Lösung sucht. Wir sind 65.000.
Viele Künstler, mag man sie finden wie man will, machen an diesem Montagabend klar, dass ein Popkonzert nicht die Welt verändern wird und alle nicken dabei. Schön wär’s, aber das bleibt Utopie. Trettmann, Feine Sahne Fischfilet, Kraftftclub, KIZ, Materia und Casper, Nura und die Toten Hosen geben sich die Klinke, pardon, das Mikro in die Hand. Die Stimmung ist gut, Tausende wippen zum gleichen Beat und singen die Texte ihrer Lieblingsbands mit. Vergessen, warum man da ist, haben meiner Meinung nach die wenigsten.
Die Stimmung
Wie kam ich mit meiner Menschenliebe zurecht? Ich gebe zu, dass es für mich stellenweise mehr Grenzerfahrung war, als ich mir in diesem Moment vielleicht hätte eingestehen wollen. Es war in Mitten der Masse stoppenvoll, es ging buchstäblich kein Apfel mehr zu Erde. Glaubt mir, ich habe es versucht. Trotz der Enge waren alle gut gelaunt, scherzten mit fremden Leuten, irgendwer verteilte Eis und Wasser. Ein Colahersteller stellte kostenlos schwarzes Blubberwasser in feschen Bechern, eine bekannte Eismarke warf mit Eisbechern um sich, Initiativen reihten sich vor der Stadthalle auf und verkauften Jutebeutel. (Natürlich habe ich sie mir alle angeschaut).
Die Stimmung ist mit Freude aufgeladen, fast euphorisch.
Man wollte die Leute am liebsten alle in den Arm nehmen und danke sagen, dass sie sich für das kleine Chemnitz so engagieren. Danke sagen, dass sie da sind und die Chemnitzer mit ihrem braunen Problem nicht allein gelassen haben. Danke sagen, dass sie aus Berlin, Hamburg, Bamberg, Wurze und sonst wo herkamen, um für ein friedliches Miteinander einzustehen.
Die Heimfahrt
Wir sind vor den Toten Hosen gegangen, denn wir wollten schlau sein. Wenn man eher am Zug ist, darf man auch eher mitfahren. Auf diese super kluge Idee sind auch andere Intelligenzbestien gekommen. Der Bahnsteig nach Dresden war gelinde gesagt überlaufen. Zu späterer Stunde wurden die Menschen gar nicht mehr in den Bahnhof gelassen. Die Bahn meinte aber, dass der Normalverkehr an Zügen ausreiche, was ich immer noch für einen schlechten Witz halte. Dementsprechend voll waren auch die Wagons, mein Kreislauf drehte ein paar Runden, ich war froh, wieder aus dem Zug zu kommen.
Das Fazit
Ich habe es nicht bereut und bin stolz darauf, an diesem Montagabend meiner Heimatstadt den Rücken gestärkt zu haben. Auch wenn es nur ein kleiner Tropfen auf heiße Pflastersteine war und man an diesem Abend wahrscheinlich niemanden zu mehr Menschenliebe bekehren konnte, hat es sich doch gelohnt, ein Zeichen zu setzen. Vielleicht war es an einiger Stelle zu wenig politische Demonstration und zu viel Konzert. Vielleicht war ich nicht mit allen Äußerungen zufrieden, vielleicht stimme ich auch vielem nicht zu, aber es ging ja auch nicht darum, die gleiche politische Meinung zu haben.
Es ging darum, ein Zeichen gegen Gewalt zu setzen.
WICHTIG!!
Im oben genannten Beitrag kommt die ganze eigene, persönliche Meinung der Autorin zum Ausdruck.
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